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Hier findet Ihr verschiedene Texte zur Diskussion über die Wahlaltergrenze. Da die uns unterstützenden Organisationen dazu verschiedene Ansichten vertreten, kommen hier auch verschiedene Standpunkte zu Wort.
Auch an Euren Anregungen bzw. Eurer Kritik sind wir interessiert.
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"Wenn jemand will, soll man ihn auch lassen"

Das Wahlrecht ist nur der Anfang, damit das Rad in Gang kommt - ein Interview mit dem Kinderrechtler Johannes Heimrath

Für Dich sind Gleichwertigkeit und Selbstbestimmung zentrale Begriffe. Was soll man sich darunter vorstellen?
Als wir begonnen haben, uns für ein neues Bildungswesen politisch einzusetzen, war das kein von uns abgelöster Prozess, den man eben mal macht, weil man das theoretisch richtig findet, sondern es ist hundertprozentig aus dem gelebten Leben heraus entstanden. Tilmann war ja unser Familienmitglied, und von daher gab es überhaupt keine Theorie in der Sache, sondern es gab schlicht die unmittelbare Anschauung.

Wer einen Wert hat, hat auch ein Recht.

Allein dieser Prozess, dass man erkennt, wo die Bedürfnisse des anderen sind, und dass man auch erkennt, wie man und dass man helfen kann, das setzt ja schon voraus, dass man in seinem Kosmos so etwas eingebaut hat wie unbedingte Gleichwertigkeit. Ein Recht kann nur jemand haben, der einen Wert hat.

Du hast mal gesagt, wer sich an der Gemeinschaft aktiv beteiligen will, soll sich beteiligen dürfen. Wie wichtig ist das Wahlrecht dabei?
Das ist unverzichtbar, denn wenn ich die Gesellschaft anschaue, gibt es ganz eklatante Mangelerscheinungen. Und eine der Mangelerscheinungen ist, dass die Energie der jungen Leute nicht konstruktiv eingebracht werden kann. Das heisst jetzt nicht, dass ich die Jugend verkläre und sage: ‚Ach wunderbar, unsere Jugend!', sondern im Gegenteil. Ich denke, vieles von dem, was in der jetzigen Art, wie Jugend-"Kultur" ist, schief geht, hängt eben gerade damit zusammen, dass Kinder und Jugendliche nicht beteiligt sind, dass sie sozusagen mit So-tun-als-ob-Manövern abgespeist werden, dass sie nicht wirklich über ihre Zukunft entscheiden können.
Es gibt einen kritischen Moment bei der Geschichte. Immer wenn man so etwas wie z.B. die Senkung des Wahlalters vorhat, dann stößt man auf einen Ist-Zustand. Und die meisten Leute, die protestieren, können sich genauso wenig wie die, die dem Wandel entgegenstehen, von dem Ist-Zustand lösen. Wenn man so etwas vorhat, muss man bereit sein, auch mit den anderen zu fantasieren, wie es sein könnte. Und ich denke, wenn man das Rad wirklich komplett drehen möchte, dann muss sich im Zusammenhang mit der Senkung des Wahlalters natürlich auch Anderes ändern. Es muss dann auch in der Schule eine andere Art von Bildung stattfinden. Es muss viel früher darauf geachtet werden, dass Kinder und Jugendliche die Möglichkeit haben, sich wirklich selbständig zu bilden, und nicht einfach etwas vorgesetzt bekommen. Es ist auch zwangsläufig so, dass sich im Elternhaus in den Beziehungen etwas ändern muss. Denn man kann nicht auf der einen Seite Rechte verteilen und dann weiterhin zu Hause Bevormundung zulassen.
Andererseits, wenn man nirgendwo anfängt, dann kommt dieses Rad nicht in Gang. Im Grunde ist es gleich, wo man anfängt.

Gegen das Kinderwahlrecht wird oft gesagt, dass Kinder zu "unreif" seien und die Folgen ihres Handelns nicht erfassen können. Auch wenn Erwachsene die Folgen ihres Handelns oft nicht erfassen, ist das Grund genug, Kindern das Wahlrecht zu geben?
Was ist Kind? Wir haben mal das Experiment gemacht - zwei Jahre lang - das Wort "Kind" nicht zu benutzen, und das war für uns sehr erhellend. Uns ist ganz klar geworden, dass es einfach verschiedene Kompetenzen gibt. Und in den Bereichen, in denen man kompetent ist, ist man immer kompetent, egal wie alt man ist oder wie "behindert" oder auch wie "krank". Wenn man die Kompetenz hat, will man dort auch mitmischen. Wir alle sind z.B. kompetent, als Embryo unseren eigenen Geburtsvorgang im Körper der Mutter auszulösen. Wir sind kompetent genug, um essen, gehen, sprechen und lernen zu lernen. Und wenn meine Kompetenz, meine Grenzen zu erkennen, nicht eingeschränkt und verzerrt wird, dann habe ich auch ein sicheres Gefühl dafür, wo ich mich selbst einbringen kann und wo ich lieber einen anderen Kompetent(er)en ranlasse.

Mit Meinungsverschiedenheiten müssen wir uns auseinandersetzen.

Von daher habe ich eine Art Leitsatz: Wenn jemand sich einbringen will, soll man ihn auch lassen. Es kann nichts schiefgehen. Es gibt diesen Grundkonsens, dass das, was wir engagiert tun, immer dem Ganzen dient. Wenn es um das Gemeinwesen geht, und jemand trägt dazu bei, dann ist er 100% von etwas getragen, was im Grunde positiv und aufbauend ist. Sein oder ihr Beitrag kann das Gegenteil von dem sein, was ich meine, aber es ist vom Impuls her nicht anders - dann müssen wir uns mit dieser Meinungsverschiedenheit eben auseinandersetzen. Von einem Wahlrecht für Unter18jährige versprechen wir uns, dass Politiker die Interessen junger Leute stärker berücksichtigen. Was könnte sich z.B. an Schule ändern, wenn Schüler eine Stimme bekommen? Dieser Apparat Schule ist neben Deutscher Bahn und Deutscher Post und dem Finanzamt gleichrangig auf der Ebene der trägen Organisationen in unserem Land.

Die Vergrösserung des rechtlichen Rahmens wird zweifellos etwas ändern.

Dass Schule sich ändert - das ist der härteste Brocken überhaupt. Und wenn man dort etwas knacken möchte, dann kann man das fast nur durch die Vergrößerung des rechtlichen Rahmens der Kinder und Jugendlichen schaffen. Es ist ja völlig klar: Wenn ich jemanden ab 16 (oder 14) für wahlmündig erkläre, dann ist er Träger von Rechten, die er vorher nicht hatte, und das wird ihn in seinem Selbstwertgefühl und in seinem Auftreten ändern, und nur dann reagiert dieser Organismus Schule. Anders wird's nicht gehen. Deswegen denke ich, die Senkung des Wahlalters wird unzweifelhaft eine Auswirkung auf die Art haben, wie Schule bzw. das Bildungssystem generell funktioniert.

Machst Du auch die Erfahrung, dass viele Kinder und Jugendliche gar kein Interesse haben, mitbestimmen zu wollen? Woran liegt das?
Das haben wir vor 15, 20 Jahren auch schon beklagt. Wir haben gesagt: ‚Menschenskinder! - wir machen hier Sachen, das sind doch alles Themen, die müssten doch auch von den Jugendlichen aufgegriffen und mitgetragen werden.' Das hängt eben, wie gesagt, mit diesem Rad zusammen, an dem viele Speichen sind, und das nur als Ganzes in Bewegung versetzt werden kann.

Die Bereitschaft, aktiv dabei zu sein, geht mit den ersten Negativ-erfahrungen verloren.

Diese scheinbare Trägheit und das oft unverständliche Desinteresse, das würde ich heute anders werten: Bei Kindern und Jugendlichen ist das Interesse grundsätzlich immer da. Aber viele sind völlig frustriert, viele Interessen können sich überhaupt nicht entfalten, weil sie z.B. nicht in den Schulrahmen passen oder nur zu einem anderen Zeitpunkt in den Schulrahmen passen würden (zu früh oder zu spät). Das heisst, auf der einen Seite gibt es bereits diese Frustration durch abgewürgtes Interesse, und dann kommt dazu, dass dadurch, dass keine Mitbestimmung möglich ist, man ja praktisch nur zugucken kann, was in der äusseren Welt um einen herum veranstaltet wird. Und dass das zu einer Lähmung führt, das erfahren wir "Erwachsenen" doch auch. Wenn ich merke, ich habe hier keine Stimme, ich komme da nicht mit oder nicht vor, dann kann ich doch nur noch mit den Schultern zucken und mich abwenden. Das machen die meisten. Und nicht zu wenige greifen dann zu irgendwelchen brutalen Selbstbetäubungs-Maßnahmen, die eben auch in ein mörderisches Verhalten übergehen können. Ich denke, die Lethargie vieler junger Leute oder dieses scheinbare Desinteresse oder dieses Abgetötet-Sein durch irgendwelche Ersatzmittel wie Konsum, Lärm, Computergames und Schein-Ekstasen, das sind ja direkte Folgen davon, dass ich nicht teilnehmen kann. Jetzt habe ich schon viele Kinder aufwachsen sehen, von 0 bis 30, und muss klar sagen, es gibt da so eine magische Grenze: In dem Moment, wo diese ersten Negativ-Erfahrungen kommen: "Du kannst das nicht", "Du darfst das (noch) nicht", "Du bist noch nicht reif genug" usw., erlahmt da etwas und geht die ursprüngliche und unmittelbare Bereitschaft, sich zu beteiligen, fast unwiederbringlich verloren. Dabei habe ich doch mein Leben schon vor dem ersten Atemzug in die Hand genommen, und jetzt wird es mir Stück für Stück wertloser und wertloser gemacht ... Das muss man sich dann später alles wieder erarbeiten. Viele Kinder verlieren diese grundsätzliche Bereitschaft, aktiv dabei zu sein, wenn sie die ersten größeren Zusammenhänge begreifen und sehen, dass sie darin nicht vorkommen.

Was rätst Du jungen Leuten, die sich für mehr Mitbestimmung in Schule und Gesellschaft einsetzen wollen?
Ich denke, da gibt es schon Möglichkeiten. Erstens würde ich nicht theoretisieren, sondern immer versuchen, aus der eigenen Biografie heraus zu sprechen, so dass alles wirklich mit dem gelebten Leben zusammenhängt. Das hat sich für mich als Weg gezeigt, wo man auf einer direkten Ebene miteinander kommunizieren kann. Ich kann doch in vielen Sachen einfach sagen, wie es gelaufen ist und was ich dabei gelernt habe. Es gibt auch noch andere Möglichkeiten. Man kann auch gemeinsam träumen, und es wird ganz wenige Leute geben, die sagen, sie seien mit allem, so wie es ist, völlig glücklich und zufrieden. Und wenn man das schafft, dass man sich einen Moment lang eine Auszeit nimmt für das Gespräch und einfach gemeinsam träumt, dann hört man plötzlich, wie die Leute sich alles ganz anders vorstellen, dann sind sie alle auf dem Weg zu mehr Glück, zu mehr Identität, zu mehr Gemeinsamkeit, zu mehr Wärme, zu mehr Aktivität, zu mehr Schönheit - zu all dem, und da findet man immer einen gemeinsamen Einstieg.

Johannes Heimrath unterstützte Tilmann Holsten, der 1989 von einem bayrischen Amtsgericht nach mehrjährigem Prozeß von der Schulpflicht befreit worden war. 1992 brachte er im Rahmen des "Netzwerks für Kinder" die Petition für Freiheit und Selbstbestimmung im Bildungswesen ein.
Er ist 48 Jahre alt.

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